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Lynch verstehen.

Als »lynchesk« werden düstere Welten beschrieben, voller enigmatischer Plots und unerklärlicher Begebenheiten. Etliche Filmtheoretiker:innen haben Filme wie MULHOLLAND DRIVE, LOST HIGHWAY oder INLAND EMPIRE vergeblich zu dechiffrieren versucht. Kann man David Lynchs Werk überhaupt verstehen? Entlang von vier Schlüsselsätzen aus unserem Artist Talk mit Lynch nähern wir uns dieser Frage an.

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Straight video

»I’m an optimist.«

David Lynch glaubt unbeirrbar an die Sturheit des Lebensdranges. Das gilt für seine düsteren Filme ebenso wie für THE STRAIGHT STORY, sein vielleicht leichtestes Werk. Hauptdarsteller Richard Farnsworth hatte zum Zeitpunkt des Drehs Krebs im Endstadium. Wie geht man in der Branche mit einer solchen Wahrheit um? Redet man nicht über sie und lässt den Schauspieler allein sterben? Lynch nicht: Er gibt Farnsworth seine letzte (und vielleicht beste) Hauptrolle und lässt ihn als Alvin Straight auf einem schrottigen Rasenmäher durch Amerika tuckern. Im Film tritt Alvin seine Reise an, um seinen sterbenskranken Bruder zu besuchen. Im Leben ist es für Farnsworth selbst die letzte Reise vor laufenden Kameras. Mit THE STRAIGHT STORY und anderen Filmen bekennt Lynch sich als Verfechter des entschlossenen Willens against all odds.

THE STRAIGHT STORY: Am 14. Mai um 18:25 Uhr auf KinoweltTV.

Inland video

»Man has control over his action alone. Never of the fruit. You never know what’s going to happen.«

Für seinen Willen musste er stets hart kämpfen. Lynchs künstlerische Vision stand nie in Einklang mit den rigiden Vorstellungen der Industrie. Für seine Kreativität – den einzigen Gott, an den er glaubt – angelt er Versatzstücke seines Unbewussten und begibt sich freiwillig in die Untiefen seiner eigenen Psyche: »You never know what you are going to catch.« Vorgefertigte dramaturgische Modelle, target audiences und kalkulierbare Zahlen … sie widersprechen dem freien Strom der Ideen, der unkontrollierbar, offen und mitunter auch gefährlich ist.
 
Mit dem Glamour, mit dem sich die Filmindustrie umhüllt, hat dieser riskante Prozess wenig zu tun. Mehrmals hat er die Traumfabrik als zerstörerische Scheinwelt gezeigt – so auch in INLAND EMPIRE, in dem Laura Dern ein gepeinigte Schauspielerin mit Identitätsverlust verkörpert. 2006, am Zenit seiner Karriere, hatte Lynch sich so viel künstlerische Freiheit erarbeitet, dass er INLAND EMPIRE nach seinen kompromisslosen Vorstellungen drehen konnte: ohne existierendes Drehbuch, vollkommen offen für den Weg, den seine Ideen ihm wiesen.

INLAND EMPIRE: Am 28. Mai um 01:20 Uhr auf KinoweltTV.

Elephant video

»There are many things hiding beneath the surface.«

Die Dinge sind mehr als ihre oberflächlichen Erscheinungen. Was wir von der Welt sehen, ist nur die Spitze eines größeren Eisbergs. Kaum eine Szene illustriert diesen lynchesken Gedanken besser als das legendäre Intro von BLUE VELVET. Die Kamera fährt an glücklichen Kindern und gestrichenen Gartenzäunen vorbei, und zeigt, was sich im Schatten der Suburbia-Idylle versteckt: Tief im Gras kämpfen Horden von Käfern einen gnadenlosen Kampf um ihr Leben.
 
Doch auch unter positivem Vorzeichen fordert Lynch uns heraus näher hinzusehen. »I am not an animal. I am a human being!«, schreit John Derrick dem Mob entgegen, der ihn in DER ELEFANTENMENSCH verfolgt. Denn in seinem deformierten Körper schlägt ein Herz wie jedes andere. Die Geschichte des »Elefantenmenschen« als Horror Story? Nein – Lynch erzählt sie als behutsames Plädoyer für die unantastbare Würde eines jeden Menschen.

DER ELEFANTENMENSCH: Am 16. Mai um 16:40 Uhr auf KinoweltTV.

Mulholland video

»I intended to stay in Europe for three years. Instead, I stayed 15 days!«

Als junger Maler reiste Lynch durch Europa. Doch der alte Kontinent brachte nicht die Erleuchtungen, die er sich erwartete: Die Suche nach Oskar Kokoschka in Salzburg wurde zur Enttäuschung, und als Lynch sich irgendwann in Athen in einer Herberge voller Eidechsen wiederfand – »7000 Meilen vom nächsten McDonalds entfernt!« – da wurde ihm der Legende zufolge klar, dass er einfach nach Amerika gehörte.
 
Lynch ist für das Kino das, was Edward Hopper für die Malerei war: Der große Porträtist der Americana, trotz all seiner Schattenseiten tief verwurzelt und geprägt von der kulturellen Landschaft der USA. THE STRAIGHT STORY, TWIN PEAKS, LOST HIGHWAY – wären diese Filme in irgendeinem anderen Land denkbar gewesen? Auch die Dekonstruktionen Hollywoods zeugen von einer fast schon obsessiven Hassliebe zur Traumfabrik – Lynch dekonstruiert, was ihn fasziniert, und ihn fasziniert, was er zerstört.
 
So auch in seinem enigmatischen Meisterwerk MULHOLLAND DRIVE: Als aufstrebende Schauspielerin kommt Betty Elms (Naomi Watts) nach Los Angeles. Betty ist verzaubert von der Stadt der Engel und sieht erst zu spät die Dämonen und Teufel, die sie unter ihrer Oberfläche verbirgt. Ist Betty ein Double ihres Regisseurs? Oder steht sie für all jene Schauspielerinnen, die an Hollywood zugrunde gegangen sind? Dutzende Filmtheoretiker:innen haben sich an diesen Fragen abgearbeitet und MULHOLLAND DRIVE vergeblich zu entschlüsseln versucht.

MULHOLLAND DRIVE: Am 14. Mai um 20:15 Uhr auf KinoweltTV.

Vielleicht ist die einzige Erklärung, dass man diesen Film (wie Lynchs Oeuvre überhaupt) nicht restlos verstehen kann – dass wir uns nur selbst die Erklärungen geben können. Dazu Lynch: »Every viewer is going to get a different thing. That's the thing about painting, photography, cinema.« Dem kann man eigentlich gar nicht mehr viel hinzufügen.

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Thumbnail David Lynch

Im Artist Talk spricht Lynch über seine Anfänge als Künstler, seinen kreativen Prozess, streift Meilensteine und Scheidepunkte seiner Karriere und verrät, warum er in Europa nicht lange glücklich sein konnte.

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