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Top 10 Filme mit der höchsten Street Credibility

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Risseimbeton

#10 Risse im Beton

Ö 2014, R: Umut Dağ

Während Kritikerlieblinge wie CHIKO oder GEGEN DIE WAND migrantische Lebensrealitäten endlich in den deutschen Mainstream hieven konnten, ist ein kleines Filmjuwel aus Österreich hierzulande nur den wenigsten bekannt. RISSE IM BETON erzählt von Ertan, der nach zehnjähriger Haft aus dem Gefängnis kommt und mitansehen muss, wie auch sein Sohn Mikail schrittweise auf die schiefe Bahn gerät.

Umut Dağ, Regisseur des Films, wuchs als Kind kurdischer Einwanderer:innen in Wien auf und kochte Kaffee bei Drehs von Michael Haneke, bevor er seine eigenen Spielfilmprojekte zu realisieren begann. RISSE IM BETON ist nur an der Oberfläche ein Rap-Drama. Kompromisslos zeig Dağ seinen Helden als Spielball eines grausamen Systems, das ihm und seinesgleichen keine andere Wahl lässt, als zu Verbrechern zu werden. Oder, wie es einer von Ertans Freunden formuliert, als dieser wieder Scheiße baut: »Du kriegst dich von der Straße, die Straße nicht aus dir!«

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Killerofsheep1

#9 Killer of Sheep

USA 1978, R: Charles Burnett

Als 2022 der Kreis jener erweitert wurde, die für die prestigeträchtige Sight and Sound-Poll die besten Filme aller Zeiten auswählen durften, kam es zu Überraschungen. Nicht nur wurde erstmals der Film einer Frau an die Spitze gevotet – viele weitere zu Unrecht vergessene Werke schafften es endlich in die Top 100. Unter ihnen das Erstlingswerk des großartigen Charles Burnett.

Burnett ist der wohl bekannteste Vertreter der sogenannten LA Rebellion. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen in Watts auf, jenem Stadtteil von Los Angeles, der durch gewaltsame Unruhen berühmt werden sollte. KILLER OF SHEEP spielt in Watts und zeigt den jungen Stan, der in einem Schlachthaus arbeitet. Er ist der verträumte Außenseiter, derer das Kino so viele kennt – nicht gewillt, sich mit seinem Schicksal abzufinden, aber unfähig Dinge zu verändern, die größer sind als er. Statt auf einen klassischen Spannungsbogen, den ein Leben ohne Hoffnung nicht haben kann, setzt Burnett auf knallharten Neorealismus. Viel zu spät sollte ihm für sein Debüt und weitere tolle Filme wie TO SLEEP WITH ANGER jener Platz im Kanon zuteilwerden, der ihm eigentlich schon ganz lange gebührt.

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Lemonade

#8 Beyoncé: Lemonade

USA 2016, R: Beyoncé und andere

LEMONADE ist kein Spielfilm im klassischen Sinn. Trotzdem erzählt Beyoncé darin viel - und weitaus mehr als so mancher Gangster Rapper, der mit der Knarre an twerkenden Ärschen vorbeitanzt. Die Kapitel ihres Konzeptalbums/Musikfilms/Opus Magnum tragen archetypisch anmutende Titel wie »Anger«, »Hope« oder »Redemption«. Bilder von der Crème de la Crème der Musikvideo-Regie fügen sich mit Versen der britisch-somalischen Poetin Warsan Shire und einigen von Beyoncés besten Tracks zu einem Meilenstein des Schwarzen Feminismus zusammen.

Beyoncé singt von den Seitensprüngen ihres Mannes Jay-Z, von der Konkurrenz zu anderen Frauen, von sozialer Ungleichheit und Rassismus. Und auch wenn sie zwischendrin einfach Spaß dran hat Scheiben einzuschlagen oder mit dem Bulldozer Oldtimer zu plätten, ist sie doch vor allem in den Momenten der Verletzlichkeit am stärksten. Wer real ist, hat es nicht mehr nötig auszuteilen.

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RHEINGOLD

#7 Rheingold

D 2022, R: Fatih Akin

Die Biografie von Deutschlands härtestem Rapper – als Heldenmythos. So etwas kann nur einem Regisseur einfallen, der der sogenannten Leitkultur mit seinen Filmen schon den ein oder anderen Schlag in die Magengrube verpasst hat. Emilio Sakraya (!) brilliert als Giware Hajabi alias G alias Xatar, der als Sohn kurdischer Einwanderer:innen in Bonn aufwächst, mit Drogen dealt und mehrmals auf die Fresse bekommt, bevor er beginnt anderen auf die Fresse zu geben. Der Rest ist Legende.

In seinem Debüt KURZ UND SCHMERZLOS zeigte Fatih Akin selbstbewusst jene dunklen Gassen Altonas, in denen er selbst einst als Teil einer Jugendbande sein Unwesen getrieben hatte. In GEGEN DIE WAND konnte man regelrecht den Fahrtwind spüren, mit dem Birol Ünel gegen die titelgebende Mauer krachte. Doch nie zuvor in Akins Filmografie haben die soziale Realität, feinsinniger Humor und deutsche Zeitgeschichte so organisch zusammengefunden wie in RHEINGOLD. Nie zuvor hat ein deutscher Film so gut gezeigt, wie es ist, als tougher Motherfucker durch die Straßen zu gehen. Brrrrr!

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Losolvidados

#6 Los Olvidados

MEX 1950, R: Luis Buñuel

Im mexikanischen Exil beobachtete Luis Buñuel entsetzt jene Kinder, die in den Slums von Mexiko-Stadt ihr Dasein fristeten. Sie inspirierten die Geschichte von Jaibo, der als Anführer einer Jugendbande für Schrecken sorgt und den unschuldigen Pedro in seine Spirale von Gewalt und Zerstörung mitzieht.

Buñuel selbst war in privilegierten Verhältnissen in der spanischen Pampa aufgewachsen. Das Leben der Straße kannte er nicht. Doch nach zwei Folklore-Filmen für das mexikanische Publikum, in denen seine anarchische Ader nur zwischen den Zeilen gewütet hatte, wollte er die Realität so zeigen, wie sie sich ihm präsentierte: schwarz-weiß, grausam und ohne Happy End. Seine Waffe? Der unerschrockene Wahrheitsdrang eines Investigativreporters. Die Methode? Surrealer Albtraum-Neorealismus. Nicht einmal der blinde Obdachlose ist lieb. Nicht einmal die Mutter.

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Queenslim

#5 Queen & Slim

USA 2019, R: Melina Matsoukas

Sie stellen sich als »Queen« und »Slim« vor. Sie, Juristin, er, Schuhverkäufer, lernen einander bei einem schlechten Tinder-Date kennen. Nach dem gemeinsamen Abendessen beschließen sie heimzufahren, doch dann hält sie ein Polizeiauto auf. Der Polizist ist aggressiv, zieht seine Waffe. Plötzlich wird aus der Romantic Comedy ein Film über rassistische Polizeigewalt. Doch gerade dann, wenn man glaubt, Melina Matsoukas Roadmovie verstanden zu haben, macht dieses eine weitere 180-Grad-Wendung. Queen und Slim werden auf einmal unfreiwillig zu Bonnie und Clyde, zu Gejagten in einem Land, in dem schon lange heimlich Krieg herrscht.

Matsoukas hat bereits mit Musikvideos für Rihanna, Lady Gaga und Beyoncé ihr Talent für knallige Bilder mit langem Echo bewiesen. Doch es ist vor allem das Drehbuch aus der Feder von Serien-Genie Lena Waithe, das QUEEN & SLIM zum modernen Klassiker macht. Das Amerika, das sie als queere Schwarze Frau zeigt, ist ein Amerika der unbegrenzten Möglichkeiten, doch das unter negativem Vorzeichen. Die Straßen sind für Menschen wie sie ein Ort, an dem einer:m alles zustoßen kann.

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Lesmiserables

#4 Les Misérables

F 2019, R: Lady Lj

Regisseur Lady Lj gebührt Respekt. Nicht nur setzt er sich seit Jahren dafür ein, jungen Menschen Film näherzubringen, die nicht aus bürgerlichem Haus stammen, nicht nur musste er für seine Zivilcourage in puncto Polizeigewalt bereits ins Gefängnis – ihm ist mit LES MISÉRABLES auch der vielleicht beste Film über das Leben in den Banlieues gelungen, besser noch als Mathieu Kassovitz‘ LA HAINE oder der viel zu unbekannte WESH WESH QU’EST CE QUI SE PASSE? von Rabah Ameur-Zaïmeche.

Eine Drohne fliegt über die Dächer und sieht etwas, was sie nicht sehen sollte – ein Unrecht, die unerbittliche Realität, mit der die »Elenden« von Paris tagtäglich konfrontiert sind. Die brüchige Ordnung gerät ins Wanken. Die Unterdrückten schlagen zurück. Doch LES MISÉRABLES ist klug genug, an der darauffolgenden Eskalation keinen Gefallen zu finden. Der Gewalt fällt ein:e jede:r zum Opfer – selbst die autoritären Cops, die sie gesät haben. Hatte die Eingangsszenen ein vereintes Frankreich gezeigt, in dem Jung und Alt, Schwarz und Weiß zusammen den WM-Sieg feiern, so macht Lj deutlich, wovon es in seinen Straßen tagtäglich wieder gespalten wird.

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Straightouttacompton

#3 Straight Outta Compton

USA 2015, R: F. Gary Gray

Die Produktion von STRAIGHT OUTTA COMPTON war von Bandenkriegen und anderen gewalttätigen Vorfällen überschattet. Vielleicht ein trauriger Beweis für die Credibility von F. Gary Grays Rap-Biopic: Es wurde  nicht in der Sicherheit eines fernen Studios oder einer alternativen Location gedreht, sondern tatsächlich in den gefährlichen Straßen, in denen N.W.A. groß wurde.

Ob man will, oder nicht: an diesem Film führt bei Street Credibility kein Weg vorbei. Auch 8 MILE hatte epische Rap-Szenen. Auch GET RICH OR DIE TRYIN‘ begeisterte mit flotten Sprüchen. Doch STRAIGHT OUTTA COMPTON ist – wie das Album, das ihm zugrunde liegt – eine kleine Revolution. Ice Cube, Dr. Dre, Eazy-E, DJ Yella und MC Res mögen harte Macker sein, doch Credibility verschaffen sie sich letztendlich durch ihre Lines. Selten konnte auch der privilegierteste weiße Zuschauer in Mitteleuropa so glaubhaft den Weg von den Straßen South L.A.s, von brutalen Begegnungen mit der Polizei bis an die Spitze des Rap-Olymps mitverfolgen, ohne sich seine Converse dreckig zu machen. Zitat Ice Cube: »I don't know any other movie where you can mix Gangster Rap, the F.B.I., L.A. Riots, HIV, and fucking feuding with each other.«

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Americanhoney

#2 American Honey

USA 2016, R: Andrea Arnold

Die Straße birgt Überraschungen und Wunder. Es gibt wenige Filme, die den Titel Roadmovie wirklich verdient haben. Zu oft ist das Ende der Reise, der dramaturgische Höhepunkt, schon früh am Horizont sichtbar. Doch Arnolds Heldin Star, verkörpert von Sasha Lane – was für ein Debüt! –, ist im wahrsten Sinne des Wortes on the road. Es gibt keine spirituelle Bedeutung der Reise, Star ist einfach, was sie ist: eine von Amerikas Ärmsten, gezwungen zu driften und sich zu behaupten.

Wie hätte die grandiose Regisseurin von WASP oder FISH TANK, wie hätte sich das Arbeiterklassenkind aus England auch zu metaphysischen Überhöhungen hinreißen lassen können? Arnold weiß, wie es ist, wenig zu haben und viel zu kämpfen. Die Kehrseite des Land of Opportunity zeigt sie authentischer als NOMADLAND. Und trotz der dicken Haut, die sie sich einst in Dartfords Sozialbausiedlungen aneignen musste, staunt sie auch in jedem Moment überzeugender über die Welt als Chloé Zhaos Oscar-Gewinner. Nur am Ende von AMERICAN HONEY greift sie ausnahmsweise zu einem Symbol. Star setzt eine Schildkröte aus und sieht zu, wie das Tier in die Welt geht: in kleinen Schritten voran, den harten Panzer am Rücken, ein kleines, stilles, berührendes Wunder.

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Dotherightthing1

#1 Do the Right Thing

USA 1989, R: Spike Lee

Als man ihn nach der Entstehungsgeschichte seines Ulk-Films FRIDAY fragte, erklärte Ice Cube, er habe schon lange einen Film machen wollen, der den Alltag in der Hood so zeigt, wie er ist: nicht nur Schießereien und prügelnde Cops, sondern auch Spaß und Leichtigkeit. Solidarität. Unvergessliche Charaktere und Originale.

Dabei hatte das Spike Lee bereits einige Jahre zuvor getan. Das Brooklyn seiner Kindheit, es ist ein kleines Dorf für sich, in dem Mookie (von Lee selbst grandios gespielt) für den Italoamerikaner Sal Pizzen austrägt, die Latinos auf der Straße tanzen, die Koreaner gutes Geschäft machen und der obdachlose Trinker Da Mayor Weisheiten in den Wind streut. Es ist ein Ort, der wenig hat, und doch voller Reichtum. Doch es ist auch ein Schmelztiegel, ein Pulverfass, das jeden Moment zu explodieren droht.

Es gibt so vieles, was Lees Meisterwerk dem Kino gegeben hat: ein verspieltes, scheinbar unerschöpfliches Repertoire an formalen und narrativen Ideen. Die unglaublichen Orangetöne von DOP Ernest R. Dickerson, welche die Hitze New Yorks regelrecht spürbar machen. Menschen, die ihre Meinungen in die Kamera sprechen oder schreien, das Kino als Agora. Das Leben in seiner ganzen Vielfalt, seiner Großartigkeit. Das Leben – in seiner vollen Härte.

Das Tragische an Lees Meisterwerk ist, dass man sich ein Happy End anstelle des historisch gewordenen Finales nur wünschen kann. Hätte Sal doch Bilder von Schwarzen Berühmtheiten in seine Pizzeria gehängt! Hätte Buggin Out doch nachgegeben! Wäre es an diesem Tag bloß nicht so unfassbar heiß gewesen! 24 Jahre nach seinem Erscheinen ist DO THE RIGHT THING kein bisschen gealtert. Er zeigt uns immer noch, was täglich erkämpft werden muss, damit die Komödie nicht zur Tragödie wird, damit »Love« nicht in »Hate« kippt: Toleranz, gleiche Chancen und vor allem Raum zum Leben. Und gute Musik. Rest in Peace, Radio Raheem.

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Honorable Mentions:

Boyz N tha Hood (USA 1991, R: John Singleton)
City of God (BRA 2002, R: Kátia Lund, Fernando Meirelles)
The Last Black Man in San Francisco (USA 2019, R: Joe Talbot)
Vagabond (F 1985, R: Agnès Varda)
8 Mile (USA 2022, R: Curtis Hanson)
Tausendschönchen (ČSSR 1966, R: Věra Chytilová)
Never rarely sometimes always (USA 2020, R: Eliza Hittman)
Knallhart (D 2006, R: Detlev Buck)
Get Rich or Die Tryin‘ (USA 2005, R: Jim Sheridan)
The Connection (USA 1961, R: Shirley Clarke)
Girlhood (F 2014, R: Céline Sciamma)
Wanda (USA 1970, R: Barbara Loden)
La Haine (F 1995, R: Mathieu Kassovitz)
Tsotsi (ZA 2005, R: Gavin Hood)