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Der Berg ruft: „Alles ist relativ!“

Regisseur Timm Kröger hat mit seinem sechsfach für den Deutschen Filmpreis nominierten DIE THEORIE VON ALLEM ein hintergründiges Meisterwerk geschaffen – verdruckste Physiker, die tiefe Geheimnisse in sich tragen und auf Holzskiern verschneite Berghänge runterwedeln, eine rätselhafte Pianistin, die plötzlich verschwindet und Männer mit schwarzen Mänteln und Hüten, die in Uranstollen umherschnüffeln. Sein erster Film ZERRUMPELT HERZ war ein Hochschulabschlussfilm ohne Verleih und somit gilt DIE THEORIE VON ALLEM mit Jan Bülow, Olivia Ross und Hanns Zischler in den Hauptrollen als Debütfilm.

Er war 2023 als einziger deutscher Beitrag im Wettbewerb des Filmfestivals Venedig und natürlich auch bei uns zu sehen. Anlass für ein ausführliches, spannendes Interview mit dem jungen Filmemacher, das später im Text folgt.

Theorie

Filme und Serien, die entweder in den Alpen spielen oder von Physik handeln, sind derzeit ungewöhnlich beliebt. OPPENHEIMER von Christopher Nolan über den Vater der Atombombe Julius Robert Oppenheimer erklärt uns die Feinheiten der Teilchenphysik und mathematischen und logistischen Probleme beim Bau der ersten Atombombe. Der Film zündete weltweit bei Millionen Zuschauer:innen ebenso wie bei der Oscarjury – es ist das erfolgreichste Biopic aller Zeiten. Was treibt Menschen dazu an, sich 180 Minuten lang ausführlichem Mansplaining über die Divergenz zwischen den Teilchentheorien Albert Einsteins („Alles ist relativ“ wird ihm zugeschrieben) und Werner Heisenbergs auszusetzen? Ist es das moralische Dilemma des Helden? Oder die Frage, wer dieser brillante Mann, den die meisten vorher gar nicht kannten, wirklich war? Oder Sensationsgier – man will sehen, wie die Bombe hochgeht? Vermutlich all das und zusätzlich die Sehnsucht nach einer Zeit, in der alles überschaubarer war. In der Männer Hüte trugen und Frauen die Verantwortung für die Kinderbetreuung. Eine Zeit, die auch DIE THEORIE VON ALLEM aufleben lässt. 

Umfp oppenheimer

Zeitreisen und Multiversen sind seit jeher Bestandteile des Kinos. Neu ist, dass diese bei Publikum und Kritikern rasend gut ankommen. Letztes Jahr wurde der surreale EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE von Daniel Kwan und Daniel Scheinert zum meist ausgezeichneten Film der Filmgeschichte. DOCTOR STRANGE IN THE MULTIVERSE OF MADNESS von 2022 hatte weltweit ein großes Publikum. Dass die Theorie der parallel existierenden Universen kein rein popkulturelles Phänomen ist, zeigen prominente Physiker wie Stephen Hawking, Brian Greene, Michio Kaku oder Max Tegmark, die sich alle auf die Seite der Multiversum-Theorie geschlagen haben. 

Einstein

Die technischen Möglichkeiten erlauben dank neuer Supercomputer und KI, noch mehr unserer Existenz zu verstehen und verändern zu können. Das verunsichert und fasziniert gleichermaßen. 

Simpsons

Darüber hinaus zitiert und persifliert DIE THEORIE VON ALLEM deutsche Bergfilme. Timm Kröger gibt uns ausführlich Auskunft über seine Einflüsse und Bezüge. Mit seiner Begeisterung für massive Massive steht er aktuell nicht alleine da. Auch die Serie DAVOS 1917, die bisher teuerste deutsch-schweizerische Großproduktion, ist in den Alpen angesiedelt. Dominique Devenport ist Krankenschwester in einem Sanatorium in der titelgebenden Stadt, in dem es vor Spionen nur so wimmelt. DAVOS 1917 ist wie DIE THEORIE VON ALLEM von einem starken Retro-Feeling durchdrungen. Vieles passiert unter der Oberfläche, und es zieht sich eine gewisse Melancholie durch die Erzählung. Kein Wunder angesichts der Gräuel des Ersten Weltkriegs, die die Hauptfigur in DAVOS 1917 miterleben musste. Kein Wunder angesichts der verstockten Stimmung der deutschen Nachkriegszeit, die das Grauen des Zweiten Weltkriegs bemäntelte und die Timm Kröger in DIE THEORIE VON ALLEM so hervorragend inszeniert. Vielleicht sehnen auch wir uns angesichts der Nachrichtenlage nach einer heilen, abgeschiedenen Bergwelt. 

Heidi

DAVOS lief übrigens ebenfalls bei uns im letzten Jahr, genauso wie der ACHT BERGE von Felix Van Groeningen und Charlotte Vandermeersch. Der allerdings ist reine Gegenwart. Berge als Fluchtpunkt vor den Zumutungen des urbanen Lebens.   

Eight Mountains

Das war bei Louis Trenkers DER BERG RUFT und Arnold Fracks DER HEILIGE BERG mit Leni Riefenstahl in einer Hauptrolle nicht unähnlich. Allerdings ging es bei denen nicht wie in ACHT BERGE um eine intensive Beziehung zwischen zwei Freunden und brüchige Lebensentwürfe, sondern um Abenteuer und Heldentum, was gut zur Propaganda des aufkommenden deutschen Faschismus passte. Davon abgesehen mochten die Deutschen ihre Berge und die der Nachbarn schon immer im Film. Egal ob in den 50er Jahre Heimatfilmen oder im BERGDOKTOR: dort droben ist‘s halt einfach schön.

Berg Ruft

DIE THEORIE VON ALLEM feiert weniger die Schönheit der Natur, sondern erkundet Rückzug und Ennui und steht damit in der Tradition von Thomas Manns Roman DER ZAUBERBERG. Hans W. Geißendörfer verfilmte ihn 1982 kongenial als Dreiteiler fürs Öffentlich-Rechtliche (was ist eigentlich aus diesem fantastischen Hauptdarsteller geworden?). Ein Blick auf die Handlung und die Themen des Mann-Romans lässt uns leichter verstehen, weshalb melancholische Bergfilme hip sind.

Der Roman handelt von Hans Castorp, einem jungen Mann, der für einige Wochen in ein Sanatorium in den Schweizer Alpen reist, aber durch unvorhergesehene Umstände dort länger bleibt. Während seiner Zeit im Sanatorium wird er mit verschiedenen philosophischen, sozialen und politischen Ideen konfrontiert, die die Gesellschaft seiner Zeit widerspiegeln. Zentraler Aspekt des Romans ist die Darstellung der Zeit und des Zeitgeistes. Die Passivität und Lethargie der Patienten im Sanatorium spiegeln eine Gesellschaft wider, die von einem Gefühl der Entfremdung und des Zweifels geprägt ist. Diese Atmosphäre des Stillstands und der Reflexion könnte man mit der heutigen digitalen Ära vergleichen, in der viele Menschen in ihren virtuellen Welten gefangen sind, was zu einer Art Zeitlosigkeit führt – das echte Leben ist nicht mehr so bedeutsam. Die abgeschiedene Welt der Berge als Rückzugsort zum Heilen, in der die Zeit stehen bleibt. In Timm Krögers Film gerät sie sogar völlig aus den Fugen.

IDK

»Alfred Hitchcock und David Lynch machen Liebe auf dem Teppich einer alten Hotellobby«, so beschreibt Timm Kröger in unserem Interview seinen Film DIE THEORIE VON ALLEM. Vor allem die muffige seltsame Nachkriegszeit hat es ihm angetan. Es wurde viel geschwiegen und wenn nicht, war überbordende, leicht gruselige Fröhlichkeit Trumpf.

Die Berge, die Kröger übrigens in Österreich gedreht hat und nicht in der Schweiz, sind bei ihm Kulisse für ein Forschen und Grübeln über die letzten Dinge und eine zarte Liebesgeschichte. Was das alles mit u.a. Slavoj Žižek, der Postmoderne, Hitchcock, Heinz Erhardt, Rick and Morty und Erich Kästner zu tun hat, verrät er uns in dem Gespräch, das wir mit ihm anlässlich der Aufführung seines Films bei uns geführt haben.

Timm Kröger Video Cover FFQA

DIE THEORIE VON ALLEM scheut in der Handlung vor großen emotionalen Ausbrüchen zurück. Im Soundtrack hingegen geht es durchgehend symphonisch-pathetisch zu. Soundtracks sind Timm Krögers Obsession. Als Vorbild für seinen Film wünschte er sich einen Score, der sich nach dem Komponisten Paul Misraki anhört, der u.a. die Musik für Godards ALPHAVILLE komponierte. 

Als Kröger als Klavierschüler gefragt wurde, was er spielen wolle, antwortete er »JURASSIC PARK«. Die Trennung zwischen E und U interessiert ihn nicht. Er vermischt einfach alles und gibt es dann in den Teilchenbeschleuniger seiner Fantasie. Heraus kommt überraschend großes, erwachsenes Kino von einem noch jungen spannenden Künstler.